Meine gerade 7 Jahre alt gewordene Nichte und ich spielen gerne Rummy miteinander. Das ist ein Spiel, bei dem Zahlenreihen in vier verschiedenen Farben anhand von Spielsteinen gelegt werden müssen. Derjenige gewinnt, der am Ende keine Spielsteine mehr auf seiner Ablagebank hat. Hierzu sind mathematische Fähigkeiten wie Rechnen und Kombinieren vonnöten. Das Spiel wird für Kinder ab 8 Jahren empfohlen.

Als meine Nichte und ich vor kurzem Rummy spielten, erfanden wir eine neue Regel: Ein Spieler kann den anderen Spieler nach einer konkreten Karte, wie zum Beispiel der grünen 5, fragen und sie von ihm bekommen, um selbst eine vollständige Zahlenreihe mit dieser geborgten Karte nun legen zu können. Jeder Spieler hat nur Einsicht in seine eigene Ablagebank. Dabei entwickelte sich folgender Dialog zwischen uns:

Nichte: „Tante, hast du eine gelbe 6?”

Ich: „Nein, tut mir leid, habe ich nicht.”

Sie: „Hast du eine grüne 11?”

Ich: „Leider auch nicht.”

Sie lächelnd: „Kann ich bei dir nachschauen?”

Ich: „Nein.”

Sie: „Lügst du?”

Ich: „Nein, ich lüge nicht.”

Sie, völlig entsetzt: „Kannst du nicht lügen?”

Ich musste daraufhin lachen und erwiderte: „Doch, aber ich will nicht lügen.”

Daraufhin riss meine Nichte erstaunt die Augen auf und fragte: „Aber warum nicht?”

Ich: „Weil ich selbst auch nicht angelogen werden will.”

Sie: „Hä?”

Nun stand ich vor der Aufgabe, einer gewieften 7-Jährigen den kategorischen Imperativ von Kant zu erklären. Dies war meine Replik: „Wenn ich nicht von anderen angelogen werden will, muss ich auch selbst die Wahrheit sagen. Wie kann ich sonst von anderen verlangen, dass sie mich bitte nicht anlügen? Das ist eine Regel, die ich gut finde und die ich beim Spielen immer anwenden will.”

Ihre lapidare Antwort auf meine Erklärung in all ihrer kindlichen Offenheit: „Ah, so.” Und wir spielten vergnügt weiter.

Für mich interessant waren in diesem Gespräch zwei Dinge: Erstens ist bei meiner Nichte die Fähigkeit zu lügen bereits ausgeprägt und sie kann sich in die Gedankenwelt ihres Gegenübers versetzen und dessen Perspektive übernehmen, wie es jüngere Kleinkinder noch nicht können. Sie hat erkannt, dass es für mich selbst von Vorteil gewesen wäre, sie anzulügen, damit ich ihr im Spiel nicht helfe und ihr keinen Vorteil mir gegenüber verschaffe.

Zweitens hat sie gelernt, dass Lügen im Leben offenbar dazugehört. Ob durch Beobachtung im Alltag oder durch Spielen mit Gleichaltrigen, das bleibt offen. Mit der Möglichkeit, dass der andere lügt, muss daher von vorneherein gerechnet werden. Ein bewusster Verzicht auf das Lügen war ihr völlig neu (in diesem Fall das pro-soziale Lügen als Selbstschutz).

In der Philosophie präsentiert Augustinus die klassische Definition: Lügen heißt, die Unwahrheit sagen, verbunden mit einer Täuschungsabsicht.1 Es ist ein Verstoß gegen eines der 10 Gebote und somit eine Sünde für Augustinus. Lügen in der verbalen Kommunikation ist ein intentionales Handeln mit dem Ziel, den anderen zu schützen oder ihm zu schaden. Die moralische Frage, ob Lügen erlaubt ist oder nicht, beantwortet Kant in seinem Aufsatz “Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen” eindeutig mit einem kategorischen “nein”. Die Wahrheit2 (veritas) ist von der Wahrhaftigkeit (veracitas) zu unterscheiden. “Wahrheit” wird hier verstanden als eine wahre Aussage, die den Tatsachen entspricht. Wahrheit ist propositionalen Wesens – sei es in Aussagen oder Gedanken. Kant folgt der Tradition Platons, dass Wahrheit kein Besitz ist, jedoch a priori anerkannt wird.

Mit “Wahrhaftigkeit” bezeichnet Kant die „subjektive Wahrheit in seiner Person”3 Sie ist eine Pflicht, die formal, basal, streng und unbedingt gültig ist.

...weil Wahrhaftigkeit eine Pflicht ist, die als die Basis aller auf Vertrag zu gründenden Pflichten angesehn werden muß, deren Gesetz, wenn man ihr auch nur die geringste Ausnahme einräumt, schwankend und unnütz gemacht wird.4

Lügen schadet der Menschheit nach Kant, selbst die gutmütige oder pro-soziale Lüge zum Schutz seiner selbst oder Schutz des anderen. Für ihn trägt der Lügner die Konsequenzen seiner Lüge als einer sprachlichen Handlung und die Verantwortung dafür selbst, nicht jedoch derjenige, der die Wahrheit sagt. Die Lüge ist für Kant eine Rechtsverletzung und als solche nicht erlaubt, egal, in welcher Situation auch immer, für uns Heutige im 21. Jahrhundert eine schwere Kost. Ein rigoroses Lügenverbot nach Augustinus oder Kant scheint heute kaum möglich, doch lohnt es sich meines Erachtens, die Konsequenzen des eigenen sprachlichen Handelns möglichst in Betracht zu ziehen – sei es im Spiel oder im Ernst. (Meine Nichte dafür sensibel gemacht zu haben, ist meine bescheidene Hoffnung.)

 

 


1 Augustinus: Die Lüge und Gegen die Lüge. S. 7. Hg. v. Paul Weseling, Würzburg: Echter Verlag, 1986.

2 Bernard Williams fragt, ob es die objektive Wahrheit als solche überhaupt gebe. Siehe Bernard Williams: Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2013. S.11. Ähnlich auch Nietzsche (Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, 1872), der Wahrheit als Illusion kennzeichnet.

3 Immanuel Kant: “Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu Lügen”, A 301, 302, 303.

4 Ibid, A 306, 307, 308.