Wer hätte gedacht, dass sich diverse Anklänge an das Cartesische cogito ergo sum - Argument bereits beim Rhetorikprofessor und Bischof Aurelius Augustinus finden lassen?1 Wer hat Augustinus überhaupt außer als Schriftsteller seiner Confessiones auch als Philosophen im Blick?2 Es ist Ludwig Wittgenstein, der besonders zu Beginn seiner Philosophischen Untersuchungen (PU) auf Augustinus’ Sprachphilosophie Bezug nimmt. Auf dem Hintergrund der augustinischen Theorie entwickelt Wittgenstein schließlich seinen Gegenentwurf von der Sprache als „Sprachspiel”.

Augustinus’ Verhältnis zur Sprache ist eingebettet in seine je situative Lebensrealität, in welcher sich seine meisterliche Beherrschung von Sprache als Sprungbrett in die große Welt erweisen sollte. Das Studium der Rhetorik in Karthago, später seine Rhetorikprofessur in Mailand, seine lebensverändernden Begegnungen mit Faustus und besonders mit Ambrosius und seine Tätigkeit als Bischof von Hippo Regius zeugen davon. Augustinus ist ein Meister der Sprache, gerade weil er umfassend über sie reflektiert: Was ist angemessene Sprache? Wie lernen wir Sprache? Wie können wir Wahrheit sprechen und tun?

Die augustinische Sprachphilosophie entwickelt sich in den Confessiones in mehreren Stufen und findet ihren Höhepunkt in einer Sprache der Transzendenz. Auf der ersten Stufe betrachtet er Sprache als eine Welterfassung und analysiert, wie Kinder Sprache durch Laute und Gesten körpersprachlich und über ihr Gedächtnis geistig verarbeiten und erlernen, um dann „auf das stürmische Meer der menschlichen Gesellschaft”3 hinaus zu treten. Auf der zweiten Stufe ist die praktisch-rhetorische Sprachbeherrschung als eine Weltbildung, als ein Weiterkommen in der Welt (z. B. als Professor und Bischof) zu verorten. Auf der dritten Stufe denkt Augustinus über Sprache als Reflexionsinstrument nach. Ciceros Eloquenz weckt in ihm die Liebe zur Weisheit und bekehrt ihn zur Philosophie. Er will rhetorisch brillante Sprache mit der Wahrheit verbunden wissen.

„So hatte ich denn von dir gelernt, daß nicht deswegen etwas wahr genannt werden darf, weil es beredt vorgetragen wird, und noch nicht deshalb etwas falsch, weil die Laute stotternd über die Lippen kommen [...].” (Conf. V, 6, 10)

Augustinus folgt Platon, wenn er Worte als Abbilder im Gedächtnis begreift, die nicht zwangsläufig gegenwärtig sein müssen. Worte können konkrete Dinge benennen wie einen Stein oder die Sonne oder abstrakte Dinge wie die Zahlen4. Doch hierbei gibt es einen Unterschied für Augustinus: während Worte wie “Sonne” Abbilder im Gedächtnis sind, gibt es von den Zahlen jedoch kein Bild, sondern die Zahl selbst vergegenwärtigt sich im Gedächtnis. Die Zahl ist im Denken als solche inhärent und Zahlen und ratio sind auf diese Art miteinander verwoben.

Auf der vierten und letzten Stufe gipfeln seine Überlegungen zur Sprache im Sprechen mit Gott. Augustinus spricht Gott direkt an in seinen Confessiones und Gott antwortet ihm in den passenden Bibelstellen. Augustinus’ Wunsch ist es, Wahrheit zu tun und Wahrheit zu sprechen. Doch woher weiß er, was Wahrheit ist? Er vertraut auf Gottes Lenkung, welcher der beste Richter und selbst die Wahrheit ist (Conf. XII, 25, 35). Für Augustinus ist Gott die transzendente Wahrheit, die „unwandelbar” (incommutabilis veritas) und „über unseren Geistern” (supra mentes nostras) ist. Augustinus öffnet sein Herz, in der Hoffnung, Wahrheit zu tun: durch seine Confessiones vor allen Lesern und im Gespräch vor Gott. Die Sprache der Transzendenz, die Gott in sein Herz füllt, ist sein ultimatives Ziel.

Augustinus vertritt eine Referenz-Theorie von Bedeutung, nach welcher Wörter Gegenstände benennen. Sie bilden in dieser primären Funktion die Wirklichkeit ab. Durch die Referenz erlangen die Wörter Bedeutung. Doch erschöpft sich die Bedeutung eines Wortes in seiner Referenz? Ist diese immer gleich? An dieser Stelle setzt Wittgensteins Kritik an Augustinus’ Sprachtheorie an. Für Wittgenstein erschöpft sich Sprache nicht in der Bedeutung, sondern in ihrem jeweiligen Gebrauch, der ganz unterschiedlicher Art sein kann.

Zwischen Augustinus und Wittgenstein liegen mehr als 1400 Jahre voll von kulturellen Brüchen, religiösen Turbulenzen und revolutionären Entdeckungen. Dieser Zeitensprung von der Spätantike bis in die Neuzeit gilt es mitzubedenken, wenn Augustinus und Wittgenstein in Beziehung zueinander gesetzt werden. Es ist erstaunlich, dass Wittgenstein im ersten Paragraphen seiner Philosophischen Untersuchungen Augustinus’ Textstelle I, 8 seiner Confessiones ausführlich zitiert und mit dieser seine philosophischen Überlegungen eröffnet, die er sich in den 16 Jahren Vorbereitungszeit dazu gemacht hatte. Seine Sprachtheorie ist so unerbittlich streng, dass sie den linguistic turn in der Philosophie einläuten sollte und als ein Gegenentwurf zu Augustinus’ Sicht von Sprache gesehen werden kann.

Wittgensteins Sprachphilosophie nimmt mit seinem Frühwerk Tractatus Logico-Philosophicus (TL) ihren Anfang, indem er Sprache zunächst als eine Art logisches Bild der Wirklichkeit betrachtet, um dann schließlich in seinem Spätwerk, den Philosophischen Untersuchungen, Sprache als mannigfaltiges Sprachspiel zu definieren.

Auch für Wittgenstein findet menschliches Denken in Begriffen statt und Sprache ist ein Mittel, um eine Welt aufzubauen, die dem Subjekt Bilder von der Wirklichkeit eingibt, die wahr sind oder nicht. Jenseits von Sprache ist nichts, denn die „Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt” (TL 5.6). Aufgabe der Philosophie ist es, diese Grenze zwischen dem Unsagbaren und Sagbaren, dem Undenkbaren und Denkbaren (TL 4.113 - 4.116) zu ziehen. Insofern ist Philosophie nach Wittgenstein Sprachkritik (TL 4.0031), die die Logik von Sprache analysiert und Gedanken logisch klärt (4.112). Im Tractatus geht er der Frage nach, wovon wir sinnvoll sprechen können und wovon nicht? Für Wittgenstein gibt es sinnvolle Sätze über die Welt (über Sachverhalte), sinnlose Sätze (logisch irrsinnige Sätze, die Widersprüche oder Tautologien enthalten) und unsinnige Sätze (wie beispielsweise Sätze über Gott oder Ethik). Ein Satz über Gott ist unsinnig, weil dieser nicht überprüfbar oder logisch ist. Gott ist zu abstrakt und nicht in der Welt offenbart (TL 6.432), so dass sein Sinn außerhalb der Welt liegt. Folglich ist ein Satz über Gott in dieser Welt logisch unsinnig für Wittgenstein. Insofern ist Augustinus’ Suche nach der Sprache der Transzendenz für Wittgenstein logisch unsinnig, weil die Transzendenz jenseits des Sagbaren liegt. Folglich ist auch das Mystische in der Sprache unaussprechlich.5

Wie verhält sich nach Wittgenstein die Sprache zur Welt? Der frühe Wittgenstein sieht in der Sprache ein Werkzeug, um die Grenzen der Welt logisch festzulegen. Er interessiert sich für die logische Form von Sprache. Der späte Wittgenstein untersucht den mannigfaltigen Gebrauch von Sprache, der sich nicht in der Beschreibung der Wirklichkeit wie Augustinus sie auffasst, vollzieht und in seiner mehrdeutigen Vielfalt gerade nicht in ein festes Regelwerk gefasst werden kann. Diese Wildheit von Sprache bedeutet für ihn, dass Sprache nur im Gebrauch existiert, weil sie für ihn eine „Lebensform” (PU §19) darstellt und durch den Kontext eindeutiger wird. Bedeutung und Gebrauch sind folglich bei Wittgenstein gleichgesetzt. So bezeichnet er Sprache und all ihre Tätigkeiten als „Sprachspiele” mit je situativ eigenen Regeln, Anwendungsgebieten und Funktionen (PU §7, 21 - 24).

Wittgenstein kritisiert an Augustinus eine falsche Verwendung von Sprache, weil sie auf die primäre Art ihrer Verwendung zur Verständigung reduziert wird. Dies ist nach Wittgenstein, nicht alles, was Sprache ist. Sprache folgt nicht ausschließlich gewissen Regeln in einem eng umgrenzten Gebiet (PU §3 und 11). Insofern beschreibt Augustinus ein System der Verständigung, wie Kinder sie lernen, aber nicht Sprache an sich. Augustinus’ Confessiones geben den Anstoss zu Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen. Von Augustinus ausgehend, setzt er sich intensiv auseinander und gelangt so zu seinem Konzept von Sprache als „Sprachspiel”. Wittgenstein ist es hoch anzurechnen, dass Augustinus heute auch als Sprachphilosoph gewürdigt wird.


1 Aurelius Augustinus: De vita beata, 2,7; De vera religione 39, 73 oder in De civitate Dei XI, 26.

2 Descartes, Husserl oder Heidegger setzen sich mit seinen philosophischen Grundüberlegungen über die Zeit, Sprache oder den Willen auseinander. Und für Jaspers ist er mit Platon und Kant gar einer der „drei Gründer des Philosophierens” (Karl Jaspers: Plato, Augustin, Kant: Drei Gründer des Philosophierens. München: Piper, 1957.

3 Aurelius Augustinus: Confessiones I, 8, 13.

4 Zu Augustinus’ Zahlenphilosophie siehe beispielsweise Christoph Horn: “Augustins Philosophie der Zahlen”, in: Revue des Études Augustiniennes, 40 (1994), S. 389-415.

5 Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus, 6. 522. Doch das augustinische Sprechen mit Gott ist zumindest im Gebet für Wittgenstein menschlich nachvollziehbar, wenn der Mensch sich gedanklich auf die Suche nach dem Sinn des Lebens macht. Ludwig Wittgenstein: Tagebücher 1914-1916, S. 165ff.