„Nämlich nach meiner Erklärung ist die Redekunst von einem Teile der Staatskunst das Schattenbild“ 1, so Platons Sokrates im Gorgias auf die Frage Polos’, welchen Teil der Schmeichelei er unter der Redekunst verstehe. Die Redekunst als Schattenbild der wahrhaften Staatskunst erinnert an Platons später entwickelte Ideenlehre, in welcher nur dem Bereich der Ideen als oberstem Bereich, als der dem Geistigen zugänglichen Wirklichkeit, sicheres Wissen zugesprochen wird, während die Erfahrungswelt als Bereich der Schatten nur Abbilder der Wirklichkeit sein kann. Erkenntnis, Wahrheit oder Einsicht in die Natur der Dinge spricht Platon dem Bereich der Schatten und damit der Rhetorik ab. Ohne ein Erfassen der Wahrheit kann die Rhetorik keine Kunst sein und wird folglich als Psychagogie definiert. 2 Das von Sokartes herbeigeführte Schisma 3 von Rhetorik und Philosophie, von eloquentia und sapientia, bleibt für die Rhetorik als Lehre ein Charakteristikum, welches in seinen negativen Auswirkungen bis zur Neuzeit und bis Kant spürbar bleiben wird.

Doch in der Antike haben sich andererseits Aristoteles, Cicero und Quintilian die Verschränkung von Ethik und Rhetorik, von Tugend und Praxis als Ziel gesetzt, um der Trennung durch Sokrates zu begegnen und der Rhetorik einen immanenten ethischen Gehalt zusprechen zu können. Aristoteles, welcher als erster Philosoph die Ethik als eigenständige Disziplin betrachtet und sie von der Ideenmetaphysik Platons teilweise ablöst, propagiert in seiner Rhetorik ein strebensethisches Konzept, welches den moralischen Prinzipien einer Moralphilosophie Rechnung trägt.


1 Platon: Gorgias. Kap.18, 463d.

2 ders.: Phaidros. Kap. 43, 260 D.

3 Diese Trennung ist auch örtlich festzumachen, indem sich die Rhetorik in Italien ansiedelte und die Philosophie in Griechenland beheimatet war.