„Ja, es ist nicht so, dass wir ein kurzes Leben bekommen, sondern wir haben es kurz gemacht; und wir sind damit nicht mangelhaft ausgestattet, sondern wir gehen nur verschwenderisch damit um.” (Seneca: De brevitate vitae. I, 4)

Ob man gemächlich am Strand entlang schlendert, beim Lesen in ein Buch vertieft ist oder eine Prüfung ablegt, eine gewisse Zeitspanne ist vergangen, die für immer vorüber ist. Wie kann es sein, dass wir zum Beispiel 45 Minuten mit Spazierengehen, Lesen oder Denken verbringen, aber diese Zeitspanne so unterschiedlich wahrnehmen? Was hat unser Zeitgefühl mit Zeit an sich zu tun? Warum spüren wir oft Zeitdruck? Und am wichtigsten: Was ist Zeit?

Einstein sagte einmal, Zeit sei das, was die Uhr anzeige. Bedeutet das also, dass Zeit genau dieselbe ist, egal wo ich mich befinde? Einsteins Antwort in seiner Speziellen Relativitätstheorie ist leider „nein“, da Zeit eine vierte Dimension ist, die an den Standpunkt des Beobachters gebunden ist und da so die Position eines Objektes zu einer bestimmten Zeit lokalisiert wird. Raum und Zeit sind folglich untrennbar miteinander verbunden.1 Außerdem ist Zeit abhängig von der relativen Geschwindigkeit eines Objektes und der Nähe einer Masse. Dies erklärt, warum mechanische Uhren nicht immer präzise die Zeit angeben, da sie abhängig von der Bewegung des Uhrenträgers und der Erdanziehung sind.

„Denn eben das ist die Zeit: Die Zahl der Veränderung hinsichtlich des Davor und Danach.” (Aristotle: Physik IV, 11, 219b1-2)

Zusammenfassend ist Zeit relativ nach Einstein, lokal gemäß der Physik und sie ist weise zu nutzen nach Seneca (Die Kürze des Lebens). Doch was ist sie wirklich? Ist sie eine Quantität (wie in Ingeborg Bachmanns Gedicht “Die gestundete Zeit”) oder eine Qualität mit Augustinus und Heidegger?2 Es gibt zwei altgriechische Ausdrücke für “Zeit”: χρόνος (lat. tempus) und καιρός (lat. occasio). Während ersterer die Länge der Dauer als messbare Zeit beschreibt, bezeichnet letzterer den qualitativen Aspekt von Zeit als “den richtigen oder angemessenen Augenblick“ und dient so als situative Determinante. Diese Konzeption von Zeit als καιρός spricht einen wichtigen Aspekt von Zeit an, der oft übersehen wird: Sie ist wertvoll, da sie einen bestimmten Zeitrahmen eröffnet, in welchem gute Dinge auf angemessene und effektive Weise umgesetzt werden können. Was meine ich damit? Nun, es gibt einen richtigen Moment zum Handeln, der irreversibel ist. Hat man ihn einmal verpasst, ist er für immer vergangen. Dies könnte eine verpasste Chance sein, Frieden mit jemandem zu schließen, der plötzlich nicht mehr da ist oder eine Situation, in der man Zeuge wurde, wie jemand bedroht worden ist und man selbst nicht schnell genug reagiert hat, um helfen zu können. Die Gelegenheit wurde nicht genutzt und ist dann vorüber. Am besten zeigt sich dies als medizinischer καιρός: Der Arzt steht unter Zeitdruck, wenn er seinen Patienten diagnostizieren will, ohne dabei viel zeitlichen Spielraum zu haben. Sobald sich der Zustand des Patienten ändert, muss ein Handlungsplan vorliegen, um ihm rechtzeitig bei der Heilung helfen oder das Überleben sichern zu können. Diese Zeitfenster öffnen und schließen sich. Sie zu nutzen heißt, den καιρός weise zu gebrauchen und Gutes zu tun.3

“Jeder καιρός ist ein χρόνος, aber nicht jeder χρόνος ist ein καιρός.” (Corpus Hippocraticum)

Als Philosophin tendiere ich dazu, die Zeit qualitativ zu sehen, da wir Menschen Zeit wahrnehmen, indem wir unsere Sinne einbeziehen. Sie ist mehr als ein einfacher Zeitpfeil4 zwischen Ereignis A (Vergangenheit) und Ereignis B (Zukunft). Warum? Einfach ausgedrückt, weil wir unser Leben darin verbringen. Zeit gibt unserem Leben eine Bedeutung. Auf diese Weise können Menschen Zeit “fühlen“, auch wenn wir kein spezielles Sinnesorgan dafür haben, wie zum Beispiel unsere Augen fürs Sehen. Auf einer phänomenalen Ebene nehmen wir Zeit durch unsere Emotionen und Hormone wahr.5 Dies würde bedeuten, dass die Körperlichkeit (als eine Art innerer Uhr) und Emotionen (als ein Muster oder Konstrukt von verschiedenen physiologischen Komponenten wie Körper-oder Verhaltensreaktionen) eine entscheidende Rolle in unserer Wahrnehmung von Zeit spielen. Doch dies hieße, dass unterschieden werden muss zwischen “Weltzeit” (soziale Dimension von Zeit) und “Eigenzeit” (subjektive Dimension der Zeit)6. Der Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger Edvard Moser zeigte, dass die Zeitsignatur einer subjektiven Erfahrung zu einer anderen Art von Zeitlichkeit gehört als die Zeitsignatur in genormten Uhrzeiten von Sekunden, Minuten oder Stunden. Könnte diese Unterscheidung erklären, warum wir oft Zeitdruck verspüren? Als wenn das Verrinnen der Minuten auf unserer Uhr viel schneller abläuft als das, was unser Körper uns an Zeitempfinden widerspiegelt und wir uns dadurch gehetzt und unter Druck fühlen, Dinge rechtzeitig fertigzustellen.7

So kann Zeit eine Illusion sein, wenn es sich um eine subjektive Wahrnehmung und Einschätzung von Zeit handelt im Gegensatz zur wirklichen Dauer eines Ereignisses. Wie wir uns fühlen, scheint unser Zeitgefühl zu bestimmen. Was ist dann Zeit? Zeit ist relativ, lokal, gleichmäßig, kontinuierlich, unbarmherzig und spürbar, aber weder die Philosophie, noch die Physik haben sich auf ein definites Konzept für dieses Rätsel namens “Zeit“ geeinigt oder wie Thomas Mann es so wunderbar in seinem Zauberberg formuliert:

„Was ist die Zeit? Ein Geheimnis, – wesenlos und allmächtig.” (Kap.6)


1 Siehe Hermann Minkowskis vier-dimensionale „spacetime” („Raumzeit“) als ein Kontinuum von Raum und Zeit in mathematischer Neuformulierung von Einsteins Theorie.

2 Nach Augustinus ist Zeit eine distentio animi, d.h. eine Dehnung des Geistes, insofern als sich die Aufmerksamkeit zeitlich zurückdehnt, gegenwärtig bleibt und Kommendes antizipiert und dadurch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im gegenwärtigen Erleben zusammenbringt. Heidegger stimmt hierin mit Augustinus überein, dass er menschliches “Dasein” als zeitlich geprägt definiert.

3 Aristoteles: Nikomachische Ethik I, 4,1096a26f.

4 Nach Stephen Hawkins A brief History in Time gibt es sogar drei verschiedene Zeitpfeile: einen psychologischen, einen thermodynamischen und einen kosmologischen Pfeil.

5 Siehe A. D. Craig: “How do you feel - now? The anterior insult and human awareness” 2009 in Nature Review Neurosciences 10, p. 59-70; under: https://www.nature.com/articles/nrn2555.

6 Zeit ist ein Grundproblem der Phänomenologie siehe Husserl und Heidegger.

7 https://www.ntnu.edu/how-your-brain-experiences-time und Mihaly Csikszentmihalyi prägte den Begriff des „flow”, der einen Bewusstseinszustand beschreibt und das individuelle und verzerrte Zeitgefühl erklärt, das Menschen haben, wenn sie in eine Tätigkeit versunken sind.