Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! (Kant: Was ist Aufklärung?)

Kants berühmte Definition der Aufklärung liest sich wie ein Leitspruch des kritischen Denkens: Wage es, etwas mit Hilfe deines eigenen Verstandes zu durchdringen. Doch was bedeutet das?

Philosophisch wird Kritik (gr. κρίνειν für unterscheiden, beurteilen, vor Gericht stellen) als ein Vermögen der Beurteilung bezeichnet, welches Wahrheitsansprüche prüft. Nach Platon, Aristoteles und Kant bezeichnet Kritik das menschliche Vermögen, sich mit Hilfe der ratio ein Urteil als Ergebnis eines Erkenntnisprozesses zu bilden. Denken steht im Gegensatz zum bloßen Nachplappern oder Übernehmen anderer Meinungen ohne eigene sorgfältige Prüfung der Sachlage.

Kritisches Denken ist jeglichem Dogmatismus und jeglicher Ideologie konträr und kann infolgedessen einen wirksamen Schutz vor Manipulation, blindem Gehorsam und Irrtum bieten. Kann folglich jeder kritisch denken oder anders gefragt: Welche kognitiven Fähigkeiten sind dafür nötig?

...sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen.

Kritisches Denken ist Denken ohne Schranken, formal logisch und rational (nicht emotional), ohne moralische Vorverurteilung oder Zuschreibung und ist unabhängiges Denken eines Individuums ohne Gruppenzwang oder ideologische Beeinflussung durch andere.

Wie kann solch ein Denken gewährleistet werden? Die Logik als „die systematische Untersuchung der logischen Wahrheiten”1 bietet einen guten Ausgangspunkt, um Denken formal logisch einzuüben. Die Logik unterscheidet zwischen Argument und Behauptung. Doch was ist ein Argument? Ein Argument besteht aus mehreren Prämissen und einer Schlussfolgerung. Das Ziel ist die epistemische Begründung einer Aussage. Epistemische Gründe sind Gründe, die eine Aussage logisch wahr werden lassen. In der Rhetorik ist das Argument (als Logos) jedoch nur ein Überzeugungsmittel von mehreren, und rationale Gründe werden im Zusammenspiel von Ethos und Pathos persuasiv nutzbar gemacht.

Ein gutes Argument ist ein Argument, dessen Prämissen die Schlussfolgerung2 stützen (gültiges Argument: Prämissen sind wahr –> Konklusion ist wahr). Eine einzelne Behauptung, zusammengewürfelte Behauptungen ohne logische Verbindung und Schlussfolgerung, ein Narrativ oder eine Erklärung an sich stellen noch kein Argument dar.

Auch die Unterscheidung von Tatsache (überprüfbar, “wahr” oder “falsch”) und Wert (Zuschreibung von “gut” oder “schlecht”) spielt im kritischen Denken eine Rolle. Zwar ist beides zunächst einfach eine Aussage, doch unterscheidet sich ein Werturteil von einer Tatsachenaussage durch seine ästhetische, praktische oder moralische Implikation. Warum ist dies wichtig? In rhetorischen Argumentationen (Rede oder Stellungnahme) werden oft moralische Werturteile mit ästhetischen vermischt – mit weitreichenden Konsequenzen: Während das ästhetische Werturteil rein individuell, subjektiv ist und aufgrunddessen nicht falsch sein kann (Geschmackssache), ist das moralische Werturteil (Gebote) normativ, kann aber fehlerhaft sein. Wird das eine mit dem Anderen vermischt, wird eine moralische Gültigkeit zu Unrecht impliziert oder eine subjektive Wertung wird als eine objektiv gültige zu legitimieren versucht. Welche Rolle spielt es zum Beispiel in einer Gerichtsverhandlung, ob das weibliche Opfer einen Rock trug oder nicht? Ein Rock ist ein Kleidungsstück, das unter ästhetischen Ansprüchen verhandelt werden kann, doch nicht unbedingt unter moralischen, auch wenn dies in den 50er Jahren bei Einführung des Minirocks so geschah. Ein Rock kann nicht richtig oder falsch sein, er kann schön oder hässlich sein, und dieses Modeurteil liegt im Auge des Betrachters. Rein logisch macht diese Vermischung keinen Sinn, rhetorisch jedoch aus funktionalen Gründen durchaus, worauf jedoch hingewiesen werden muss.

Was bedeutet dies für das kritische Denken?

Wenn nach Kant die „Freiheit des Geistes”3 als kritisch freies Denken ohne Leitung eines anderen aufgefasst wird und als solches ein „Menschenrecht”4 darstellt, ist es unsere Aufgabe als Mensch, mutig gängigen Auffassungen unter Umständen die Stirn zu bieten. Insofern ist das anspruchsvolle, kritische Denken in diametralem Gegensatz zum „betreuten Denken”5 zu verorten und in seiner Wichtigkeit nicht nur nicht zu unterschätzen, sondern zu fördern und institutionell zu ermöglichen.

 


1 Willard van Orman Quine: Philosophie der Logik. S. 7.

2 Es gibt induktive und deduktive Argumente/Schlussfolgerungen.

3 Kant: Was ist Aufklärung? S.17.

4 Ibid, S. 14.

5 Michael Bröning: “Betreutes Denken: Weshalb die letzte Generation die offene Debatte verhindert”, in: Neue Züricher Zeitung, 08.02.2023, unter: https://www.nzz.ch/meinung/weshalb-die-letzte-generation-die-offene-debatte-verhindert-ld.1724874; last access: 02.09.2023.