Eine der Kernfragen der Ethik ist: “Warum sollte ich oder warum sollten wir gut sein?” Und was bedeutet “gut” überhaupt?
Die Frage, ob ich oder wir gut sein sollten, ruft zwei unterschiedliche Bedeutungen von “gut” hervor: das Gutsein als ein Individuum und das Gutsein als eine Art von gesellschaftlichem Wohl. Hierbei ergibt sich eine unterschwellige Annahme, dass Gutsein ein “gut sein” für jemanden oder etwas impliziert, und dadurch ein Bezug zu menschlichem Handeln bedingt wird. Bevor ich diese Frage beantworte, müssen zuerst die Bedingungen von moralischer Verantwortung für jeden Einzelnen festgelegt werden: Ich bin moralisch verantwortlich für mein Handeln, wenn ich mein Verhalten frei wähle (nicht unter Zwang handle), und wenn ich wissentlich handle (hinsichtlich des Unterschieds von richtig und falsch). Während die Frage, warum “wir” gut sein sollten, auf die Gesellschaft im Allgemeinen anspielt, platziert die Frage, warum “ich” gut sein sollte, die moralische Verantwortung dort, wo sie primär hingehört: bei mir und meiner inneren Urteilskraft1.


Also, warum sollte ich gut sein? Beim Versuch solch eine fundamentale Frage zu beantworten, muss man die conditio humana betrachten. “Ich” bin ein unentrinnbarer Teil meiner Selbst (persönlich) und ein Teil einer größeren Gruppe oder Mitglied der Gesellschaft (unpersönlich). Folglich muss ich mit mir selbst und auch mit anderen leben, auch wenn ein vorübergehendes Entrinnen vor letzterem hin und wieder möglich ist. Doch wem ich mich nie entziehen kann, ist der „innere Richter”, der die Rolle eines „unparteiischen Beobachters” spielt, wie Adam Smith in seiner Theorie der ethischen Gefühle2 dargelegt hat. Gemäß seinem Denken mag der Mensch dem öffentlichen Spiegel der Gesellschaft ausweichen, indem er sozialen Kontakt meidet, aber er kann seinem eigenen inneren Spiegel nicht entfliehen, durch den er die Schicklichkeit seines eigenen Benehmens überprüft. Wenn diese Fähigkeit zur Introspektion ein unentwirrbarer Bestandteil der menschlichen Beschaffenheit ist, so ist mein Selbstbild ein integraler Teil meines Selbstwertgefühls.
Für mich bedeutet “Gutsein” selbstsicher und psychisch stabil zu sein. Sich mit sich selbst wohl zu fühlen. Laut Platon bezeichnet “gut” die seelische Ordnung des Individuums (Platons Höhlengleichnis in Politeia 518d). Folglich hängt das Gutsein auf eine Art und Weise von meinem inneren Sein ab, das sich nach aussen hin auslebt, so dass andere es fühlen und sehen (können).
Wenn ich selbstsicher und psychisch stabil bin, dann bin ich dazu in der Lage, mich selbst, wenn nötig, zurückzunehmen, mich einzig auf die vorliegende Sache zu konzentrieren und mich selbst von innen heraus zu schützen, indem ich Resilienz entwickle. Um dieses Argument auf formal-logisch darzustellen:

P1: Mein Denken und Verhalten reflektiert mein eigenes Wohlbefinden.
P2: Wenn ich selbstsicher und psychisch stabil bin, werde ich kompetenter durchs Leben gehen und in der Lage sein, alles das zu bewältigen, was das Leben auch auf mich werfen mag.
K:   Mein Wohlbefinden ergibt sich aus meinem Gutsein.

Es lohnt sich in jeder Hinsicht, gut zu sein, auch ohne moralische Verpflichtung. Allerdings zieht diese Kernfrage der Ethik “Warum sollte ich gut sein” eine Folgerung von moralischer Verantwortung moralisch Handelnder nach sich. Als fühlende und rationale Wesen haben Menschen ein ureigenes Interesse an ihrem Wohlbefinden, sei dies nun aufgrund moralischer, religiöser oder politischer Gründe. Nach Platon lebt derjenige ein glückliches Leben (ευ ζῶν) (353ef./580c), der seine seelische Verfassung in gutem Zustand hält (Philebos 11d).

Damit ich (mit mir selbst) ein gutes Leben führen kann, muss ich der Verpflichtung nachgehen, an mir selbst als Person zu arbeiten und dadurch mein wahres Selbst zu finden.3 Dies ist beileibe kein leichtes Unterfangen, aber ein bedeutender Teil unserer humanitas im Sinne Ciceros (παιδεία als geistige Bildung und φιλανθρωπία als Menschlichkeit).
“Gutsein” bedeutet, bei mir selbst anzufangen, um einen Unterschied in der Welt zu machen, d.h. damit aufzuhören, Böses zu verbreiten, indem ich Unsicherheiten im Inneren gären ließ, die dann manche Menschen zu boshaften Wesen gegenüber Anderen machen. Wir als moralisch Handelnde sollten diese Herausforderung auf uns nehmen, auch wenn es sicherlich kein Spaziergang ist – anderen zuliebe und für uns selbst.


1 Siehe Kant: Kritik der Urteilskraft.

2 Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle. S. 135.

3 Vgl. Nietzsches Selbsterziehung in Schopenhauer als Erzieher and Also sprach Zarathustra.