„Nihil probat, qui nimium probat.“

Warum unterliegt der moderne Mensch des 21. Jahrhunderts nach wie vor der Selbsttäuschung, wenn er versucht, eine bestimmte Überzeugung zu erreichen? Was ist Überzeugung – reine Rationalität oder bloße Illusion?

Hierfür lohnt ein Blick in die Rhetorik und in die Philosophie. Zunächst soll der Begriff Überzeugung etymologisch bestimmt werden, um dann seine Bedeutung, Verwendungsweisen und Besonderheiten in der jeweiligen Disziplin gegenüberstellen zu können.

Überzeugung (altgr. πίστις / lat. fides, probatio) soll hier einen festen Glaubenssatz oder eine wohl überlegte Meinung bezeichnen, die ein Mensch über einen bestimmten Sachverhalt gefasst hat. Sie ist zu unterscheiden von Wissen (theoretischer und praktischer Wissensbestand als wahre Überzeugung mit größter Gewissheit), Gewissheit (objektives Wissen bezüglich eines Sachverhaltes), Glauben (intuitives, subjektives Wissen) und Erkenntnis (propositionales, erforschtes, bewahrheitetes und gerechtfertigtes Wissen per se).⁠1

Platon grenzt im Phaidros (272d-e) die Wahrheit (ἀληθεία) einer Sache vom Überzeugenden und Glaubwürdigen (πιθανόν) scharf ab und führt damit das antike Schisma von Philosophie und Rhetorik ein. Dies sollte trotz Ciceros Bemühen (in De oratore) um eine Verbindung von sapientia und eloquentia in der Rhetorik bis heute prägend blieben. Die Philosophie kümmert sich um Erkenntnis als Wahrheit und Sein einer Sache, während die Rhetorik sich mit dem Überzeugenden und Glaubwürdigen einer Sache beschäftigt.

Für Aristoteles ist die Rhetorik eine Fähigkeit (δύναμις), “das Überzeugende, das jeder Sache innewohnt, zu erkennen”.⁠2 Sie ist eine Fähigkeit, Worte zu finden, um durch Beweise sprachlicher Art Menschen zu überzeugen.⁠3 Dies geschieht in einem Überzeugungsprozess durch Argumente (Induktion oder Deduktion, Enthymem, πίστεις ἔντεχνοι) oder durch nicht redetechnische Beweise (πίστεις ἄτεχνοι) wie Zeugen und Urkunden. Für ihn ist die Rhetorik ein Teil der Dialektik und bedient sich ihrer. Zwar ist für ihn das Enthymem als rhetorischer Syllogismus formallogisch wichtig, doch das Ethos des Redners hat die größte Überzeugungskraft.⁠4 Der Überzeugungsprozess ist auf den Rezipienten hin ausgerichtet⁠5 und fußt auf der Glaubwürdigkeit des Orators und auf der Wahrscheinlichkeit des Sachverhaltes. Nach Aristoteles glaubt der Mensch, wenn etwas wahrscheinlich (εἰκός) oder überzeugend ist (πιθανόν).⁠6

Cicero übersetzt εἰκός im Lateinischen mit veri simile und πιθανόν mit probabile. Beide Konzepte befassen sich mit dem Problem der kognitiven Unsicherheit beim Urteilen. Etymologisch betrachtet scheint veri simile ein philosophischer Begriff zu sein, da er “der Wahrheit ähnlich” bedeutet und somit auf eine objektive Wahrheit verweist. Probabile dagegen scheint eher ein rhetorischer Begriff zu sein, da er mit “wahrscheinlich” übersetzt wird und für eine subjektive Wahrheit in einer Redesituation steht.⁠7

Für Quintilian muss die Rede des perfekten Redners klar, kurz und veri simile sein.⁠8 Er behandelt Beweistaxonomien und erinnert daran, dass sowohl Wahres wie auch Wahrscheinliches bewiesen werden muss.⁠9 Für ihn ist die Rhetorik eine Tugend und eine Wissenschaft (bene dicendi scientiam)⁠10.

Überzeugung in der Philosophie besitzt eine Rationalität, die sich durch verlässliche Methoden und Begründungen rechtfertigt. Zwar ist dem Menschen Platons Ideal der wahren Überzeugung⁠11 als Erkenntnis (ἐπιστήμη) durch den Logos nicht immer garantiert, doch der Anspruch, Überzeugung zu fundieren, bleibt bestehen.⁠12

In der Rhetorik wird Rationalität nicht so eng gefasst, da sie Überzeugung auch mittels emotionaler Überzeugungsmittel zulässt. Die Beweisführung beruht nicht unbedingt auf Wahrheit, sondern auf Wahrscheinlichkeit (als dem der Wahrheit Ähnlichem). Nicht epistemische, sondern plausible Gründe in der Rede genügen.


1 Immanuel Kant bezeichnet diese als verschiedene «Modi des Fürwahrhaltens» in seiner Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen. IX, 66-73.

2 Aristoteles: Rhetorik. I, 2, 1355b25.

3 Aristoteles: Rhetorik. I, 2, 1356a30-1356b5.

4 Aristoteles: Rhetorik. I, 2, 1356a12.

5 Aristoteles: Rhetorik. I, 2. 1356b26-32.

6 Aristoteles: Rhetorik. II, 23, 1400a5-14.

Nach Otfried Höffe (Aristoteles. S. 63) vertritt Aristoteles damit eine “Theorie lebensweltlicher Rationalität”.

7 Zur Möglichkeit menschlicher Erkenntnis siehe Ciceros Dialog Lucullus.

8 Quintilian: Institutio Oratoria. IV, 2, 31.

9 Quintilian: Institutio Oratoria. IV, 2, 34.

10 Quintilian: Institutio Oratoria. II, 15, 34.

11 Platon: Symposion. 202a.

12 Trotz verschiedener Gründe und Widerstände wie beispielsweise das Problem des infiniten Regresses.