„Wenn uns die Natur so geschaffen hätte, dass wir sie selbst betrachten und ergründen und unter ihrer hervorragenden Führung unseren Lebenslauf vollenden könnten, dann gäbe es gewiß keinen Grund, dass jemand nach philosophischer Unterweisung verlangte. (…) Unseren geistigen Anlagen sind nämlich Samen der Tugenden eingeboren. Wenn diese die Möglichkeit hätten, sich voll zu entfalten, würde die Natur selbst uns zu einem glücklichen Leben führen.”
Cicero: Tusculanae disputationes, III, 2.

Warum ist es dann aber so schwer, der Führung der Natur zu folgen und als vernunftbegabtes Wesen (ζῶον λόγον ἔχον nach Aristoteles) auch tatsächlich unsere eingeborenen Tugenden auszuprägen? Cicero zeichnet in seinen Tusculanae disputationes ein negatives Bild vom Zustand der Menschheit, die zwar über den Logos verfügt und dennoch krankt: „Die Schicksale geleiten den Wollenden, den Widerstrebenden ziehen sie.”1 Idealbild ist der weise Mensch – der Philosoph – der seine Triebe beherrscht (ἀταραξία), seinen naturgemäßen Platz im Kosmos kennt (οἰκείωσις) und gemäß der Vernunft lebt. Und was befähigt den Menschen nach Seneca, dem Schicksal die Stirn zu bieten? In Senecas Trostschrift Ad Helviam matrem de consolatione ist es die durch die Tugend abgehärtete Seele, die den Menschen innerlich stark und unverwundbar macht (XIII, 2). Diese seelische Stärke ist durch die Beschäftigung mit den „edlen Wissenschaften” (XI) auszubilden.
Doch kann die Philosophie eine Art Therapie für den Menschen sein und was genau heilt die Philosophie? Dazu sollen in einer tour d’horizon Philosophen wie Platon, Cicero, Augustinus und Wittgenstein zu Wort kommen, um Antworten auf diese Frage zu finden.

Etymologisch bezeichnet der Begriff φιλοσοφία die Liebe zur Weisheit2 und zum geistigen Streben. Das altgriechische Verb θεραπεύειν bedeutet pflegen, heilen oder die Seele sorgfältig ausbilden (τὴν ψυχήν). Wenn Philosophie ergo Therapie ist, dann bildet sie die Seele zum Streben nach Weisheit aus und macht sie dadurch heile. Doch was heilt die Philosophie? Primär wohl das Denken und insofern die kranke Seele des Menschen.
Platons Höhlengleichnis in Politeia VII, 514a-517c gehört zu den eindrücklichsten Gleichnissen in der Philosophiegeschichte und zeigt, wozu die Philosophie fähig ist: Sie führt den Unwissenden zum Licht des Erkennens. Doch es zeigt auch, dass nicht alle Menschen den schmerzlichen Aufstieg zur Erkenntnis wollen und sich dagegen wehren. Dieser Aufstieg ist ein Sinnbild für die Philosophie, die den denkenden Menschen lehrt, mit Hilfe seiner Vernunft die Wahrheit zu erkennen. Nach Platon hilft die Philosophie, das Transzendente des Guten zu schauen (500b8-e5), wobei Platon zwischen der noetischen Schau (νόησις) der Vernunft und dem dianoetischen Denken (διάνοια) des Verstandes unterscheidet. Diese Unterscheidung resultiert aus Platons Seelenlehre, die von einer Trichotomie der Seele ausgeht: Vernunft (λογιστικόν) – Mut (θυμοειδές) – Begierde (ἐπιθυμητικόν). Im Phaidros 246a-256e präsentiert Platon die Metapher des Wagenlenkers, um das Wesen der Seele, die aus rationalen und irrationalen Seelenteilen besteht, zu bestimmen. Wie der Lenker auf dem Seelenwagen ist es die Vernunft, die die irrationalen Seelenteile lenkt. Und so ist es Aufgabe der Philosophie, den vernunftbegabten Menschen aus seiner Verhaftetheit mit der sinnlichen Welt (Schatten) zu befreien und durch die Vernunft zur Schau der Idee des Guten als höchster Erkenntnis zu führen.
In Ciceros Tusculanae disputationes II, 4 lesen wir von der „Philosophie: Sie heilt die Seelen, nimmt grundlosen Kummer, befreit von Begierden und vertreibt Ängste. Aber diese ihre Kraft vermag nicht dasselbe bei allen: Sie hat nur dann große Wirkung, wenn sie auf eine geeignete Natur trifft.” Nicht alle Seelen sind für die Befruchtung durch die Philosophie bereit. Für Cicero ist eine kranke Seele eine, die von Irrtum und falschen Vorstellungen3 geprägt, in Unruhe versetzt worden ist (III, 5). Dem steht die Seele eines Weisen gegenüber, der einen ruhigen Geist besitzt (IV, 8 und 13). Die Philosophie als „Heilmittel” (animi medicina in Tusculanae disputationes III, 6) ist bei Cicero ein Mittel zur Selbstheilung, das nicht von außen, sondern aus dem Menschen selbst heraus kommt.
Ciceros bis auf Fragmente heute verlorener Dialog Hortensius war es, der später Augustinus von Mailand nachhaltig beeinflussen und zu seiner ersten Bekehrung zur Philosophie beitragen sollte.4 Durch diese Lektüre bekommt Augustinus den Impuls, sich „vom Irdischen fort”, auf die Suche nach Weisheit zu machen (Conf. III, 8 und 17), die schließlich in der zweiten Bekehrung in der Suche nach Gott mündet. Doch diese Suche gestaltet sich schwierig und Augustinus schreibt von Illusionen, die ihn plagten, von einer geschlagenen Seele (VIII, 18) und vom „Aufruhr (s)eines inneren Menschen” (VIII, 19). Er war sein eigener Gegner.5 Für Augustinus ist jedoch in letzter Instanz nicht die Philosophie die Therapie, obwohl sie als erster Schritt in die richtige Richtung weist, sondern Gott.
Wittgenstein schließlich schreibt in seinem Tractatus logico-philosophicus 4.112 von der Philosophie, dass sie keine Lehre, sondern eine Tätigkeit ist, die zur „logischen Klärung der Gedanken” beiträgt. Sie schafft es, Knoten in unserem Denken6 aufzulösen und kämpft „gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache”.7

So unterschiedlich die philosophischen Antworten, so bleibt eines doch gleich: Philosophie hat mit mir als denkendem Subjekt zu tun, insofern als der Philosoph über Lebensfragen und über sich selbst als Objekt nachdenkt. Doch inwiefern ist dies Therapie? Philosophie hilft, die Vernunft zu trainieren, indem logische Fallstricke gelöst und philosophisch genaues Denken (mit Hilfe der Logik, Dialektik und Rhetorik) als Tätigkeit geübt wird. Daraus folgt: Ich bin, was ich denke (in Abwandlung von Descartes’ Postulat „je pense donc je suis”). Meine Welt entsteht durch meine sinnliche Wahrnehmung der äußeren objektiven Welt und der kognitiven Verarbeitung dieser Wahrnehmung.
Wenn ich mein Denken philosophisch ausrichte, kann es helfen, mich und meine Wahrnehmung und dadurch schließlich auch meine Perspektive neu zu sehen und den verzerrten kognitiven Schleier8 zu lüften, der manch genaues Denken erschwert. Philosophie kann als Therapie Selbstreflexion, -korrektur und -heilung sein – je nach Natur des Denkenden.


1 Seneca: Ep. 107.

2 Weisheit ist eine der antiken Kardinaltugenden.

3 Cicero: Tusculanae disputationes III, 1 und 2.

4 Augustinus: Confessiones III, 8.

5 Ibid, VIII, 27.

6 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Bemerkungen §2.

7 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen I §109. Nach Wittgenstein behandelt ein Philosoph eine Frage wie eine Krankheit (§255), für die er eine Heilung sucht. Bei dieser Suche behilflich ist ihm die philosophische Tätigkeit – wohl zu verstehen im Sinne der sokratischen Methode, in der der Elenchos (ἔλεγχος) als eine Art kritische Prüfung (durch Widerlegung) und in Platons Phaidros 243a3 als ein altes Mittel der Reinigung (καθαρτικὴ τέχνη) angewandt wird, um Scheinwissen zu entlarven.

8 Siehe hierzu Daniel Kahnemans Schnelles Denken, langsames Denken (2016).