Wie kommt es, dass Staatsoberhäupter und CEOs großer Unternehmen trotz öffentlich zur Schau gestellten Unmoral ohne Sanktionen befürchten zu müssen, Macht ausüben können?

Man möchte meinen, dass in einer postmodernen Welt auch in den oberen Etagen des Managements und der Politik eine offene und kooperative Diskussionskultur gilt, die moralisches Fehlverhalten ahndet. Doch weit gefehlt: Gelten moralische Voraussetzungen und Anforderungen realiter nicht unbedingt? Oder anders gefragt: Schützt die Amtsautorität ihren Träger auch bei Fehlverhalten und warum ist das möglich?

Zunächst zur Begrifflichkeit: Was ist Moral? Unter dem Begriff der «Moral» (lat. mos / ἦθος) werden Verhaltensweisen als ein Normenkollektiv für menschliches Verhalten subsumiert. Sie sind soziale Handlungsregeln, auf deren Basis menschlichen Handlungen ein moralischer Wert zugeschrieben wird. Moral muss also gelebt werden.

«Macht» wird in der Philosophie von Platon und Aristoteles als Fähigkeit, Vermögen (δύναμις) und politische Macht (Politeia, V, 473d) bezeichnet, während Nietzsche Macht als ein irreales, virtuelles oder potentielles Streben und Foucault sie als relationale Wirkung in Machtbeziehungen bestimmt. Weber definiert Macht als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht”1. Macht durchdringt das Denken und Leben des Menschen. Doch, ob Macht per se gut oder schlecht ist und objektiv real oder nur scheinhaft, ist eine Frage, die hier außen vor bleiben muss.

Als Amtsautorität soll hier die Macht durch Ansehen bezeichnet werden, die ein Amt seinem Träger qua Amt verleiht, ohne notwendigerweise damit seine vorbildlichen Eigenschaften als Person vorauszusetzen (Autorität durch Persönlichkeit).

Verbunden mit einem neuen Amt ändert der Mensch seine Rolle, seine vierte persona mit Cicero (De officiis) oder sein face mit Erving Goffman. Damit einher gehen ein gewisser Habitus und eine passende Rhetorik, die das Amt in der Vorstellung des Trägers vorgeben. Er ist sich den Erwartungen der Anderen, die an ihn qua Amt gesetzt werden, bewusst und reagiert dementsprechend darauf. Oder, um es mit Shakespeare zu sagen:

„All the world’s a stage,

And all the men and women merely players;

They have their exits and their entrances;

And one man in his time plays many parts …” 2

Von diesen Voraussetzungen ausgehend, müsste man meinen, dass sich nun Können (δύναμις) und Tugend (ἀρετή) im Träger des Amtes vereinen. Doch dies ist kein Automatismus. Der öffentliche Mensch nimmt eine persona je nach Amt an, die er ist oder zu sein vorgibt. Rhetorisch interessant ist weniger, ob diese persona wahr ist oder nicht, sondern ob sie angemessen und glaubwürdig vom Orator ausgefüllt wird. Für Cicero ist dies erfüllt, wenn alle vier personae eine „innere Harmonie der Seele” erreichen (DO I, 93-151). Es ist sein soziales Ethos, das zählt. Für Goffman ist face „the positive social value”  (ein positiver, sozialer Wert, in On face work, S. 5), ein Image, das der Orator von sich selbst der Öffentlichkeit präsentiert, um Sympathie zu erzeugen und Situation und kommunikative Interaktion zu seinen Gunsten zu beeinflussen.

Um ein solches Amt idealiter ausfüllen zu können, bedarf es persönlicher Voraussetzungen, die über die reine Fachkompetenz hinausgehen: Es ist vor allem die persönliche Autorität, die überzeugt. Sie setzt sich zusammen aus innerer Stärke, Reife und Brillanz im Denken (u.a. Reflexionsfähigkeit) und Handeln. Unternehmen oder Parteien sind Mikrogesellschaften, die hierarchisch gegliedert sind. Gerade ihre Hierarchie macht sie handlungsfähig, doch erschwert dies die Eingrenzung von Macht durch gegenseitige Kontrolle. Wie soll der Mitarbeiter den Geschäftsführer in seinem Verhalten korrigieren? Wie diese Kluft der Macht, die die Oberen schützt, überwinden? Ermöglicht wird es durch eine respektvolle und verantwortungsbewusste Unternehmenskultur, in der Werte und der offene Diskurs gelebt werden. Werte sind keine Inhalte für Werbekampagnen, sondern das Rückgrat unserer Gemeinschaft, an denen Unternehmen großen Anteil haben. (Dies haben auch die Studien der Universität Miami und der China European Business School über Corporate Social Responsibility und die Cone-Umfragen bestätigt.)3

Adam Smiths Vorstellung vom „inneren Richter” und Lévinas’ Konzept vom „Anderen als mein Meister” müssen als philosophisch wertvolle Prinzipien gelten, die in der Realität nicht immer Anwendung finden können aufgrund der systemischen Machtverhältnisse. Macht ergibt sich qua Amt, doch nicht zwingend die Moral als Sittlichkeit qua Amt. Dies spiegelt auch die veränderte Rhetorik qua Amt wider.

Soziales Ethos und individuelles Gewissen stehen einander gegenüber, doch können sie einander befruchten. Im Krisenjahr 2020 wird deutlich, dass eine kritische Öffentlichkeit die Diskrepanz zwischen Status qua Bedeutung durch das Amt und persönlichem Defizit wahrnimmt.4

Eine authentische Führungsperson ist jemand, der sich der Tatsache bewusst ist, dass er Menschen leitet, indem er Werte respektiert und festigt und nicht indem er lediglich Treffen vorsitzt. Die Qualitäten echter Führungskräfte, wie Authentizität, Vertrauen und Zuversicht, stellen eine wirkliche Macht dar insofern, als die Menschen, die mit ihnen arbeiten, dann mit Herz und Seele dabei sind. Erst im Miteinander entsteht eine positive gesellschaftliche Kultur.


1 Max Weber: Grundriss der verstehenden Soziologie. (1947) III, S. 28.

2 William Shakespeare: As you like it. II, 7.

3 “Töchter heben die Moral” (Februar 2016), unter: www.harvardbusinessmanager.de/heft/d-141171015.html; last access: 26.05.2020; “Warum integre Manager mehr verdienen sollten. Wie hält es ihr CEO mit der Moral?”, 3. Teil (30.9.2008), unter: www.manager-magazin.de/harvard/a-581382-3.html; last access: 26.05.2020 und www.conecomm.com/2017-cone-communications-csr-study-pdf; last access: 26.05.2020.

4 Mark R. Kramer: “Coronavirus is putting Corporate Social Responsibility to the test”, in: Harvard Business Review (01.04.2020), unter: www.hbr.org/2020/04/coronavirus-is-putting-corporate-social-responsibility-to-the-test; last access: 26.05.2020.