Einführende Gedanken zur philosophischen Gesprächsführung des Sokrates nach Platon:

Platons Frühdialoge sind geprägt durch die sokratische Gesprächsführung (sokratische Mäeutik). Sie zielen auf die Klärung einer simplen, aber umfassenden Frage: τί ἐστι;

Seine Frühdialoge handeln meist von Tugenden, für welche Definitionen gefunden werden sollen und die in Aporien enden. Diese Ur-Frage der Philosophie (in der Form „Was ist?”) bildet die Grundlage von Platons Ideenlehre. Insofern lässt sich seine Philosophie als eine Weiterentwicklung der sokratischen Frage verstehen. „Was ist X?” ist die Ur-Frage der Philosophie, mit der Sokrates sich und Andere prüft (Apol. 28e5-6: φιλοσοφοῦντάμεδεῖνζῆνκαὶ ἐξετάζοντα ἐμαυτὸν καὶ τοὺς ἄλλους). Nach Sokrates heißt philosophieren Gespräche führen (Phaidon 59a3-4), ohne jeden elitären Anspruch.

Als ich neulich meine kleine Nichte beaufsichtigte, die zwar hundemüde war, aber keinen Mittagsschlaf machen wollte, ergab sich folgendes Gespräch zwischen uns:

Nichte: „Ich will nicht schlafen!“. Dies vorgetragen mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck.

Tante: „Das musst du auch nicht. Dazu kann dich niemand zwingen, nicht mal du dich selbst.“

Nichte: „Warum?“

Tante: „Weil dein Körper, dein Herz und deine Seele entscheiden, ob du schläfst oder nicht. Erzwingen kann man das nicht.“

Nichte: „Was ist die Seele?“1. Sie war sichtbar überrascht von diesem neuen Wort.

Tante: „Das ist dein innerstes Wesen. Dein Inneres.“

Nichte: „Wo ist die Seele, Tante?“, fragte sie interessiert nach und hielt Blickkontakt.

Tante: „Gute Frage. Manche sagen, sie sei im Kopf, andere sagen, sie sei in deinem Herzen2.“ Ich zeigte dabei auf meine linke Brust.

Nichte: „Auch in meinen Füßen?“ Dabei berührte sie ihr Bein mit der Hand und zeigte darauf.

Tante: „Wäre möglich“.

Nichte: „Oder im Popo?“

Daraufhin musste ich lachen und sagte: „Theoretisch ja. Wobei dies manche Menschen so nicht sagen würden“. Hier dachte ich an Cicero, der in De Officiis I, 126 schreibt, dass die nicht ehrenvollen Körperteile des Menschen an seiner Rückseite im Verborgenen angebracht sind, damit sie keinen Anstoß erwecken und versteckt sind.

Offensichtlich zufrieden mit meiner Reaktion auf ihre Vorschläge und die Tatsache, dass sie selbst entscheiden sollte, ob sie schlief oder nicht, überliess ich sie zunächst dem Spiel. Nur wenige Zeit später hatte sie sich ein Kuscheltier geholt, auf das mit einer Kuscheldecke versehene Sofa gelegt und war prompt eingeschlafen.


1 Vergleiche hierzu Platons Dialoge Phaidros (245c), De legibus (896a), Sophistes (263e), Phaidon (66a1-6) und Sophia Vallbracht: Die normative Kraft des Decorum. S. 124ff.

2 Aristoteles: Juv. 2 f., 468a20-469a27 / 3, 469a6 / ἀρχή als “Herrschaftssitz” der Seele: Mot. an. 10, 703a37/ An I 4, 408b15-18.