Die Tragweite eines kleinen Wortes mag gewieften Juristen bekannt sein, doch für manche Politiker, Prominente und Aristokraten werden sie gelegentlich zu Stolpersteinen, die das Potential haben, den unvorsichtigen Orator zu Fall zu bringen. Wie kann dies passieren?

Als Sohn der Königin von England hat Prinz Andrew sicherlich Erfahrungen im Umgang mit der Presse und dem richtigen Auftreten in der Öffentlichkeit. Man müsste meinen, dass die Einhaltung des Decorum den königlichen Kindern von klein auf beigebracht wurde. Warum verursachte ein Nebensatz des Prinzen einen digitalen Shitstorm?

Analysiert man das Interview rhetorisch, muss zunächst die rhetorische Situation betrachtet werden. Dies waren die Gegebenheiten des Interviews:

Proxemik:         Salon im Buckingham Palast

Setting:             Fernsehinterview der BBC Newsnight am 14. 11. 2019; Ausstrahlung am 16.11.2019

Personen:         Emily Maitlis (Journalistin) und Prinz Andrew

Medien:            Fernsehaufzeichnung und Webauftritt auf der BBC Homepage iPlayer/Youtube

Telos:                Aufklärung der Beziehung von Prinz Andrew zu Jeffrey Epstein

Textstelle:        Antwort Prinz Andrews auf die Frage, warum er im Haus eines verurteilten Sexualstraftäters übernachtet hat:

„Right, I have always… ever since this has happened and since this has become, as it were, public knowledge that I was there, I've questioned myself as to why did I go and what was I doing and was it the right thing to do? Now, I went there with the sole purpose of saying to him that because he had been convicted, it was inappropriate for us to be seen together.

And I had a number of people counsel me in both directions, either to go and see him or not to go and see him and I took the judgement call that because this was serious and I felt that doing it over the telephone was the chicken's way of doing it. I had to go and see him and talk to him.

And I went to see him and I was doing a number of other things in New York at the time and we had an opportunity to go for a walk in the park and that was the conversation coincidentally that was photographed which was when I said to him, I said, "Look, because of what has happened, I don't think it is appropriate that we should remain in contact," and by mutual agreement during that walk in the park we decided that we would part company and I left, I think it was the next day and to this day I never had any contact with him from that day forward.” 1

Prinz Andrew argumentiert, dass er sich persönlich mit Mr. Epstein traf, um diesem zu sagen, dass es unangemessen wäre, wenn sie in Zukunft zusammen gesehen würden. Ein persönliches Treffen in der Öffentlichkeit (Spaziergang im Park) war für ihn der richtige Weg, ein Telefonat empfand er als feige.

Das Problem, das sich hier stellt, ist offensichtlich: Warum sich öffentlich mit jemandem treffen, wenn es unangemessen ist, sich mit eben diesem öffentlich sehen zu lassen? Er tut, was er doch vermeiden wollte. Die Logik der Sache widerspricht seinem Argument. Das Ethos des Redners ist das einer öffentlichen Person, die das Land England nach außen vertritt. Seit 1688 ist England eine konstitutionelle Monarchie und die Royals treten als eine Art Botschafter für ihr Volk und Land auf. Sie sind würdevolle Repräsentanten. Prinz Andrews Antwort spiegelt dies nicht wider und er verletzt so sein Ethos als königlicher Sohn. Er spricht von Angemessenheit, aber nicht von den Opfern Epsteins. Er spricht von Angemessenheit, zeigt aber keine Scham oder Reue, jahrelang Kontakt mit Epstein gehabt zu haben. Dies befremdet zutiefst.

Es scheint, als hätten Prinz Andrew und seine Mitarbeiter nicht bedacht, dass die Kommentarfunktion bei Videomitschnitten live und eine nicht kontrollierbare Säule der Macht des Rezipienten ist. Die abschätzigen Kommentare ließen nicht lange auf sich warten und spiegelten das oben genannte Dilemma wider. Der Faktor der Dimission2 betont die Diskrepanz zwischen der für den Redner anscheinend der Situation angemessenen Formulierung und der verheerenden Wirkung auf den Rezipienten. Was im Moment des Sprechens dem Redner völlig logisch erscheint, ist mitnichten die Sicht des urteilenden Rezipienten, der in aller Ruhe das Video schauen, ad hoc kommentieren oder sich danach detailliert informieren kann. Zwar ist ein Adressatenkalkül nicht immer 100% genau, aber ein Orator wägt Widerstände im Voraus ab. Warum Prinz Andrew diese Antwort gab, ob er improvisierte oder sich der Kraft seines Wortes nicht bewusst war, ist abschließend nicht zu klären. Die Wirkung seines Wortes jedoch muss nicht mehr erklärt werden, sie war eindeutig und unabhängig von Schicht und Bildung der Zuschauer.

Angemessenheit ist mehr als nur eine angemessene Rede im Sinne des aptum, denn sie muss am Orator als ethisch handelnden Akteur verankert sein in der Tradition Ciceros als decorum. Die Ethik ist wie die Rhetorik nicht vom Menschen als sozial agierenden Wesen zu trennen, da sie von ihm ausgeht und als Sprechhandlung in ihm seinen Ursprung hat. Angemessenheit bedeutet die rhetorische Verantwortung eines jeden Orators, der nicht nur über rhetorische Kompetenz, sondern vor allem auch über sittliche Kompetenz verfügen muss. Sich in jeder Minute des Sprechens dieser enormen Verantwortung bewusst zu sein, ist Aufgabe eines jeden Orators besonders auch heute – egal, wie unbedeutend das Wort für sich stehend auch sein möge.


1 Das gesamte Transkript ist nachzulesen, unter: https://www.bbc.com/news/uk-50449339; last access: 20.11.2019.

2 Der Begriff “Dimission” in der Rhetorik wurde geprägt von Joachim Knape: Medienrhetorik. 2005, S. 30.