Der jüdische Philosoph Emmanuel Lévinas nimmt seinen Anfang in der deutschen Phänomenologie von Husserl und Heidegger, die er jedoch überwinden will. Er kritisiert die abendländischen Philosophen als „Denker der Totalität“, die ihre je eigene Subjektivität nicht überwinden können.

Was ist Sein? Gibt es Symmetrie von Ich und Du? Warum ist die Metaphysik die erste Philosophie? Und vor allem: Was ist der Andere für mich? Dies sind die Fragen, die Lévinas beschäftigen und ihn zu einer neuen Fundamentalphilosophie führen: zur Ethik als ersten Philosophie.

Was bedeutet das und warum hat uns Lévinas heute in Zeiten der Pandemie etwas zu sagen? Es ist die Tatsache, dass Lévinas den Anderen oder den Nächsten als mein Gegenüber in den Mittelpunkt seiner Philosophie rückt, von dem alles ausgeht. Doch wer ist der Andere? Lévinas definiert den Anderen nicht wie Husserl als „alter ego“, sondern als den Herrscher über das eigene Ich, als Antlitz und unendlichen Anspruch an das Ich. Was heißt das konkret?

Die Begegnung mit dem Anderen kann nur geschehen, wenn kein Machtanspruch an ihn besteht, wenn sein Vorrang a priori existiert, wenn uns sein nacktes Antlitz1 gegenübersteht. Er und Ich, wir sind nicht gleichwertig; es ist eine asymmetrische Beziehung auf Grund des Vorrangs des Anderen: er ist „le maitre“.

Auf diesem Hintergrund definiert Lévinas die Ethik als eine „Infragestellung meiner Spontanität durch die Gegenwart des Anderen“2. Ethik ist die Grenze der Macht des Ichs. Was bedeutet das? Die egoistische Spontanität trifft auf die Grenze in der Gegenwart des Anderen. Der Andere ist mein Lehrer dergestalt, dass er mir Unterweisung gibt. Dem „Antlitz“ (die Weise des Anderen) begegnen, heißt sich einem moralischen Anspruch stellen. Der Andere begegnet dem Ich als moralischer Anspruch und begrenzt sein Können. Und ich bin für den Anderen verantwortlich.

Die Ethik ist für Lévinas erste Philosophie. Sein grundlegendes ethisches Prinzip ist die unendliche Verantwortung für den Nächsten. Von dieser Intersubjektivität geht all das Denken Lévinas aus, welches die abendländische Philosophie als bloße Egologie3 zu überwinden strebt. Nicht vom Ich her ist zu denken, sondern vom Anderen als dem absolut Anderen. In einer Krise wie der jetzigen hilft es, den Anderen in seiner Verwundbarkeit zu sehen und nicht vom Ich her zu denken, um so tapfer der Krise zu begegnen und alle zu schützen.


1 Emmanuel Lévinas: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen. S. 23

2 Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. S. 51.

3 Emmanuel Lévinas: Die Spur des Anderen. S. 22.