Bertrand Russells Freund und Kollege1 Alfred North Whitehead ist einer der am innovativsten denkenden Philosophen, jedoch ist er außerhalb der wissenschaftlichen Welt kaum bekannt. Dies mag an seiner Bildung liegen, die sich in seinen intellektuell anspruchsvollen Werken wie Prozess und Realität (1928) und an der Offenheit seines Denkens als Mathematiker, Physiker und Philosoph zeigt.
Um Whiteheads Prozessphilosophie zu verstehen, muss zuerst sein einzigartiges Verständnis des Universums als Physiker und Philosoph betrachtet werden. Nach seiner Auffassung besteht das Universum nicht aus einer bestimmten Menge von Gegenständen, die man im Verhältnis zu einer anderen Menge von Gegenständen definieren könnte. Er sieht das Universum nicht als eindeutig statisch oder begrenzt, sondern eher als  Bewegung, als etwas Fließendes und als Prozess. Folglich besteht Materie nicht aus Materie, sondern setzt sich aus Prozessen zusammen. Ein Prozess wird definiert durch die Interaktion von Substanzen, wie z. B. die in Molekülen gebundene Energie. Die Welt, wie Whitehead sie sieht, ist ständig in Bewegung und Veränderung, und so ändert sich auch unser Wissen von der Welt. Nach Whitehead macht es keinen Sinn, sich ein Objekt anzuschauen, sondern stattdessen auf die Beziehung wirklicher Entitäten unter einander zu schauen. Wenn Veränderung das Wesentliche ist, dann ist der Prozess die eigentliche Wirklichkeit. Nicht das Objekt in seiner Bewegung soll betrachtet werden, sondern vielmehr die Bewegung an sich. Darin besteht sein kreatives und einzigartiges Memorandum.

Sein ultimatives Telos als Wissenschaftler besteht somit nicht in der Auffassung, dass eine einmal bewiesene Wahrheit für immer wahr ist, denn die Welt und damit unser menschliches Wissen ist dynamisch und nicht von bleibender Bedeutung. Whitehead akzeptiert demütig (und betont in der Tat) diese Bedingung wissenschaftlicher Theorie, wenn er den Begriff des metaphysischen Fehlschlusses unangemessener Konkretheit (Fallacy of Misplaced Concreteness) einführt:


„There is an error; but it is merely the accidental error of mistaking the abstract for the concrete. It is an example of what I will call the ‘Fallacy of Misplaced Concreteness’. This fallacy is the occasion of great confusion in philosophy.”2

Whitehead hält fest, dass wir fälschlicherweise dazu neigen, direkte Erfahrungen in Abstraktionen umzusetzen und dass daraus Verwirrung entstehen kann, indem ein abstraktes Konzept oder die Vorstellung vom menschlichen Geist mit einer konkreten Realität verwechselt wird. Meiner Meinung nach könnte dasselbe in Bezug auf das Leib-Seele-Problem passieren. Wir versuchen, das Wesen unseres Geistes mit wissenschaftlichen Methoden zu erfassen, welche die extrinsischen Merkmale einfangen, aber was ist mit den intrinsischen, qualitativen (Qualia) und subjektiven Merkmalen? Was ist, wenn der Inhalt unseres Bewusstseins kein klar umrissener Gegenstand ist, der linguistisch eindeutig untersucht und beschrieben werden könnte, sondern für Fehler und Verwirrung anfällig ist? Ich frage mich, wie und ob überhaupt irgendeine Theorie letzten Endes wirklich das Leib-Seele Problem lösen kann. Nach Whiteheads Auffassung kann wohl keine Theorie jemals das Leib-Seele Problem lösen. Seiner Meinung nach ist es nicht zuvörderst die kognitive Fähigkeit der menschlichen Geistes, die notwendigerweise Wissen generiert, es ist vielmehr das Gefühl für Dinge.3


1 Russel und Whitehead schrieben zusammen Principia mathematica, die zwischen 1910-1913 veröffentlicht wurden.

2 Alfred North Whitehead: Wissenschaft und moderne Welt. Lowell Lectures, 1925, III, S. 64.

3 Alfred North Whitehead: Prozess und Realität, III, 2: Gefühle sind positives Begreifen. „A feeling cannot be abstracted from the actual entity entertaining it. This actual entity is termed the „subject” of the feeling. It is in virtue of its subject that the feeling is one thing. If we abstract the subject from the feeling we are left with many things. Thus a feeling is a particular in the same sense in which each actual entity is a particular. It is one aspect of its own subject.” Ibid, III, 3, S. 221.