Wenn wir uns unsicher fühlen, in scheinbar unlösbaren Konflikten gefangen sind oder mit den harten Realitäten des Lebens konfrontiert sind, was kann uns dann im Leben Halt und Orientierung für unser Handeln geben? Woher wissen wir, was zu tun ist? Was richtig oder falsch ist?

Für die einen ist es die Religion, verschriftlicht in den Zehn Geboten, im Codex Hammurapi oder der gelebte, gesellschaftliche Konsens, für die anderen liegt die Lösung in uns selbst1. Was ist damit gemeint? Der Mensch als „zoon politikon“ mit Aristoteles (Pol, 1253a1 πολιτικὸν ζῷον) oder als seelisch-soziales Wesen mit Alfred Adler vereint beides in sich: die kognitive Fähigkeit, sich in Raum, Zeit und persönlicher Identität durch Innen- und Außenreferenz zu verorten und zu verstehen. In der Innenreferenz beziehe ich meinen Wert als Mensch (Anerkennung) primär aus mir selbst, in der Außenreferenz durch andere Menschen, die auf mich und mein Handeln reagieren. Für die Individualentwicklung ist sowohl die Selbsterziehung im Sinne Nietzsches2 als auch die Prägung durch das soziale Umfeld bedeutsam, wobei beide ständig interferieren. Hierzu ein einfaches Beispiel:

Jules ist als Einzelkind unter schwierigen Bedingungen groß geworden. Sie musste funktionieren und ihre Mutter gab ihr vor, was sie zu tun hatte und wie es zu geschehen hatte. Sie lernte, dass sie von ihrer Mutter vor allem durch gute Leistungen Anerkennung bekam. Doch sie lernte nie, dass sie gut ist, so wie sie ist. Die Normen der Außenwelt3 verinnerlichte sie, sodass sich ihre Autonomie nur ansatzweise entwickeln konnte. Ben wuchs als drittes Kind in einem behüteten Elternhaus auf. Die Eltern vermittelten ihm ein grundlegendes Vertrauen, das ihm die Freiheit ließ, sich selbst kennenzulernen und zu entwickeln. Fehler und Missgeschicke wurden als Stolpersteine des Lebens gedeutet, die seine Entwicklung zu einer autonomen Persönlichkeit nicht behinderten.

Für Jules wird es schwerer sein, sich selbst Orientierung und Halt zu geben, da sie gewöhnt ist, durch Bewertung anderer erst den Weg für sich zu finden. Ben wird sich wohl eher zunächst auf seine eigene Intuition und Bedürfnisse verlassen. Dies bedeutet, dass sich unsere Denk- und Verhaltensstrukturen in der Kindheit entwickeln und unser Handeln prägen. Was uns aber letztlich Orientierung im Leben gibt, ist dadurch noch keineswegs ausgemacht. Denn jede Erfahrung, jeder Kontakt modifiziert letztlich unser Verhalten, da wir in unserem Selbstwerdungs-Prozess primär auch auf andere bezogen sind und uns in deren Reaktion widerspiegeln, wie die Existenzphilosophie und vor allem Sartre sehr gut aufgezeigt hat.4

Was gibt uns also im Leben Orientierung? Es sind zum einen die anderen, die mir mein Verhalten spiegeln und deren Bewertung meines Handelns sich in ihrem Verhalten mir gegenüber verbal oder non-verbal ausdrückt. Mein Verhalten darauf kann sich wiederum als kritische Reflexion, als Abwehr oder als Indifferenz manifestieren, wobei bewusste und unbewusste Impulse mein Verhalten steuern. Der Selbstwerdungsprozess (Individuationsprozess) ist prinzipiell unabgeschlossen, da eine Persönlichkeit wohl immer im Werden ist und sich meine Identität in ständiger Integration bewusster und unbewusster Impulse entwickelt, nicht zu vergessen die Außen-Steuerung. Was meine Resilienz im Leben entwickelt und mir Stärke und Kraft verleiht, schwierige Situationen zu überstehen oder zu bewältigen, hängt aber nicht zuletzt davon ab, wie ich diese Erfahrungen vorgängig interpretiere.5 Wenn ich in mir - in meiner Seele - einen mich leitenden Kompass habe, finde ich auch in der Dunkelheit meinen Weg.


1 Adam Smiths „the man within“ und „the great judge“ nehmen diesen Gedanken vorweg. Vgl. meine Blogartikel “Der missverstandene Adam Smith”, unter: https://sophiavallbracht.com/blog/der-missverstandene-adam-smith

2 In Anlehnung an Pindar (Pythien 2, 72) schreibt Friedrich Nietzsche: „Du sollst werden, der du bist“. Die Fröhliche Wissenschaft, 270.

3 Alfred Adler: Psychotherapie und Erziehung. Bd.1, Frankfurt a.M., 1928/1982, S. 224: „(…) mit den Augen eines anderen zu sehen, mit den Ohren eines anderen zu hören, mit dem Herzen eines anderen zu fühlen”.

4 Bezüglich der Begegnung und Auseinandersetzung des Ich mit dem Du oder dem Anderen siehe besonders die Schriften von Teresa von Avila, Martin Buber, Jean-Paul Sartre und Emmanuel Levinas.

Wie der Sozialphilosoph Hans Joas gezeigt hat, spielt hier meine (positive) Grundstimmung und damit der Faktor Religion als Transzendierung meiner selbst eine wichtige Rolle. Hans Joas: Warum Kirche? Selbstoptimierung oder Glaubensgemeinschaft. Freiburg/Basel/Wien: Herder, 2022.