Wer seine Ängste überwunden hat, wird wirklich frei sein. (Aristoteles)
Angst ist für das Überleben unverzichtbar. (Hannah Arendt)
… und all das, was man selbst gesehen und mit der Seele erfasst hat. (Anton Čechov)
Angst ist eines der Grundgefühle menschlichen Daseins. Manche kennen es schon aus der Kindheit1, wenig Glückliche lernen sie bewusst erst spät im Leben kennen. Kaum ein Gefühl fordert den Menschen so heraus wie die Angst. Warum ist das so? Die Angst zeigt uns Grenzen auf: Grenzen des verletzlichen Lebens auf Erden und die wichtigen Grenzen unserer inneren Belastungsfähigkeit. Sie weist auf den verborgenen Anteil in uns. Und sie kann auch eine große Chance sein, genauer hinzuschauen.
Von Platon, Aristoteles, Kierkegaard bis Sartre haben sich viele Denker dieses existenziellen Phänomens menschlichen Seins angenommen. Während die Angst (φόβος, ἀγχόνη oder angor, -oris) in der Antike als Machtlosigkeit2, als ein Gemütszustand und eine Art von Bewegung, die in der Seele ihren Anfang und ihr Ende findet3 und als eine a-philosophische Haltung gesehen wird, die darin besteht, dass der Mut im Staunen (θαυμαζειν in Platons Theaitetos 155c-d und Aristoteles‘ Met. 982b12-15) verloren geht, bestimmen die Philosophen der Existenzphilosophie (bzw. Existenztheologie) die Angst als einen wesentlichen Aspekt menschlicher Freiheit.
Kierkegaard grenzt die Furcht (auf einen Gegenstand bezogen) gegenüber der Angst ab und definiert Angst als „die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit“4. In ihrer Unbestimmtheit ist die Angst gegenstandslos und geistig. Doch ist sie nicht nur negativ konnotiert, sondern wird von Kierkegaard auch als Helfer und Freund der Erkenntnis bestimmt, indem der Mensch die Angst als Anlass nehmen kann, über die Grenzen menschlicher Existenz zu reflektieren. Auch Heidegger sieht in der Angst einen Weg, die Freiheit des Daseins zu erschließen. Er bestimmt Angst als ein Nicht-Begreifen des „In-der-Welt-seins“. Wir begreifen die Welt nicht und wissen nicht, was uns Angst macht.5 Als Urphänomen bei Kierkegaard, als Grundbefindlichkeit bei Heidegger, taucht die Angst als Grunderfahrung auch bei Sartre auf. Für ihn ist sie „in ihrer wesentlichen Struktur“ „Freiheitsbewusstsein“6. Angst ist ein Existenzial: „Und die Angst, das bin Ich.“7 Erleben der Welt, Zugang zum Dasein heißt, in die Freiheit geworfen zu sein, womit notwendigerweise Angst verbunden ist.
Angst ist wie Wut oder Freude ein Grundgefühl, das allen Menschen unabhängig von Kultur und Gesellschaft inhärent ist und oft über eine universale Mimik8 und typische Symptomatik zu erkennen ist. Grundgefühle gehören als Basisemotionen zur physiologischen Grundausstattung des Menschen, aus welchen sich weitere Gefühle ableiten können. Was ist ein Gefühl? Ein Gefühl ist ein subjektives Erleben einer Emotion, das mit körperlichen Reaktionen oder Symptomen einhergehen und von Gedanken oder externen Faktoren ausgelöst werden kann. Somit ist das Gefühl “Angst“ zwar ein elementares Gefühl, das jedoch individuell unterschiedlich erlebt wird (individuelle Reaktionsweisen). Dies macht die Angst für den Betroffenen auch zu einer wahren Herausforderung, sich mit sich selbst und dem eigenen Erleben von Situationen zu befassen.
Als Gefühl an sich ist die Angst zunächst normal, doch kann sie in ihrem Auftreten und Erleben funktional (hilfreich) oder dysfunktional (belastend) sein.9 Ist sie funktional, so ist sie dem Menschen ein unverzichtbarer Freund: Als ich mich vor 25 Jahren in den Wäldern Budapests mitsamt meinem freilaufenden Hund nach einer undurchsichtigen Kurve plötzlich zwei wilden Bären gegenübersah, pochte mein Herz laut, und der Kopf war leer. Nichts hatte mich je auf solch eine Begegnung vorbereitet, und ich orientierte mich instinktiv an meinem großen Hund, der sich klein machte, langsam rückwärts ging und ruhig blieb. Offensichtlich war dies die richtige Überlebensstrategie, denn uns passierte nichts und als ich mich wenige Minuten später wieder umschaute, waren die Bären im Wald verschwunden. Mein Gehirn hatte Gefahr signalisiert, schaltete in den Flight-Modus, fuhr meinen Körper in Alarmbereitschaft hoch, so dass ich schnell reaktionsfähig war, bevor ich überhaupt bewusst einen klaren Gedanken fassen konnte.
Dysfunktional ist Angst, wenn sie nicht hilfreich ist und sich in einer Angstspirale hochschraubt, die der Realität objektiv nicht entspricht (z. B. wenn keine unmittelbare Gefahr droht). Dies kann geschehen, wenn Menschen durch Gedanken, Geräusche oder Düfte getriggert werden, obwohl vor ihnen kein Bär oder Säbelzahntiger steht. Unsere Amygdala (Mandelkern im Gehirn) wird auch hier aktiv, Herzklopfen, neurogenes Zittern oder Ähnliches kann folgen. Mit dieser Art von Angst umzugehen, ist herausfordernd, doch mit den richtigen therapeutischen Techniken ist die Angst gut regulierbar. Zu lernen, wo die Grenze von funktionaler und dysfunktionaler Angst im subjektiven Erleben verläuft, bleibt für jeden Betroffenen eine spannende Aufgabe.
Angst fordert uns heraus, genau hinzusehen, wo unsere Grenzen sind, was wir brauchen, was uns belastet und was uns wichtig ist im Leben. Sie kann unseren Blick schärfen für die unverzichtbare Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst und dem Vergangenen, sie kann zu mehr Selbst-Fürsorge und Entdeckung eigener Stärken führen, sie bleibt auf jeden Fall ein starkes Gefühl, das sich nicht verdrängen lässt. In all ihrer mysteriösen, individuellen Vielfalt will sie angeschaut, durchgestanden und verstanden werden.