Als ich jüngst in den Sommerferien einen Tag lang auf meine 9-jährige Nichte aufpasste und wir allerlei Dinge gemeinsam erlebten, unter anderem einen Facetime-Anruf meines Mannes, entspann sich im Anschluss folgender Dialog zwischen uns:
Sie: „Wie lange ist Onkel weg und warum ist er da?“
Ich: „Er wird fast eine Woche weg sein, weil er dort arbeiten muss.“
Sie: „Oh! Hat er dann Heimweh?“
Ich: „Ja, er hat dann Heimweh nach zuhause.“
Sie: „Was ist Heimweh eigentlich?“
Ich: „Es bedeutet, dass er sich nach einem Ort oder Menschen sehnt, weil er sich dort geborgen und sicher fühlt und wir uns ein schönes Heim miteinander gemacht haben.“
Sie: „Hat man Heimweh, weil man geliebt wird?“
Ich: „Ja, so ist es.“
Sie: „Dann hat man kein Heimweh, wenn man geschlagen wird.“
Daraufhin war ich erstmal erstaunt, wie sie sich die Weltgeschehnisse in kindlich klarem Denken erklärt hat. So hatte sie Wochen zuvor zum ersten Mal richtiges Heimweh verspürt, als sie ohne Eltern Urlaub machen wollte, doch von solchem Heimweh geplagt war, dass ihre Eltern sie frühzeitig abholen mussten. Hier erfuhr sie, was große räumliche Distanz und Unsicherheit in fremder Umgebung bedeuten, besonders wenn die vielen Ablenkungen des Tages der abendlichen Stille des Nichtstuns Raum geben. Sie vermisste die Geborgenheit bei Mama, was sich in der sonst für sie nicht unbedingt üblichen Suche nach Nähe in den darauffolgenden Tagen ausdrückte. Mit mir als Tante verarbeitete sie auch Wochen nach dem Urlaub, was Heimweh ist und verknüpfte damit Geschichten, die sie offenbar über das Aufwachsen anderer Kinder gehört hatte.
Moralische Normen und gelebte Werte hatte sie bereits verinnerlicht, und so ordnete meine Nichte die physische Gewalt Kindern gegenüber als eine rücksichtslose Machtausübung gegenüber Schutzbefohlenen ein, die nicht angemessen ist. Ihre kindliche Logik (, wenn ich geliebt werde, werde ich geherzt, nicht geschlagen) ist gerade in ihrer Einfachheit aussagekräftig:
Liebe der Eltern -> Zuneigung -> Heimweh
Keine oder fragwürdige Liebe der Eltern -> physische Gewalt -> kein Heimweh
Philosophisch verbinden sich mit „Heimweh“ multiple Assoziationen: Nähe und Distanz, Vertrautes und Fremdes, Sehnsucht und Staunen, meine subjektive Beziehung zur Welt. Als Mensch versuchen wir unserem Dasein als ein In-der-Welt-Sein (Heidegger) Bedeutung zu verleihen – wie es meine Nichte so schön auf den Punkt brachte. Dieses In-der-Welt-Sein hat einen Ort und ein Subjekt. Es ist eine existenzielle Verfassung in einem Sinnzusammenhang: Ich hier oder ich dort. Heimweh bezeichnet diese existentielle Differenz, welche meine Nichte zum ersten Mal in ihrem Leben so deutlich empfand. Was macht die Fremde mit mir? Warum fühle ich mich dort anders und warum verunsichert mich das?
Der österreichische Schriftsteller Jean Améry, der das Konzentrationslager Auschwitz überlebt hatte, definiert Heimweh als Selbstentfremdung und Identitätsverlust:
„Man wusste nicht mehr, wer man war… Ich war kein Ich mehr. … Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben.“1
Das Ich sozialisiert sich für ein Kind zunächst in der Heimat, in der es ein “Ich“ und ein “Wir“ erlebt. Anhand der kulturellen, sozialen und emotionalen Zugehörigkeit(sstrukturen) zu einem größeren “Wir“ findet das Kind Halt. Meine Nichte war nun von diesem “Wir“ losgelöst und fühlte sich selbst fremd. Sie erkannte sich selbst in der Fremde nicht mehr und Heimweh in Form von Unsicherheit, Sehnsucht und Trauer stellte sich ein. Wenn ich hier bin, weiß ich, wer ich bin, aber wenn ich dort bin: wer bin ich dann? Das In-der-Welt-Sein basiert auf einem Vertraut-Sein mit der das Subjekt umgebenden Welt. Heidegger bezeichnet dies als ein Existenzial (als Sein das Dasein betreffend). Diese Vertrautheit mit der sie umgebenden Welt war ihr abhanden gekommen.
Heimweh als existenzielle Differenz von Welt und Subjekt wirft Fragen nach dem Ich2, nach dem Du und nach der mich umgebenden Welt auf und kann nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene ein wichtiger Fingerzeig sein, ehrliche Introspektive zu betreiben und Neues über sich selbst zu erfahren.