Bereits im Studium war ich fasziniert von Ludwig Wittgenstein und den scharf apodiktischen Sätzen seines Tractatus Logico-Philosophicus, die ich in meiner früheren Unreife jedoch noch nicht in Gänze verstehen konnte. Denn ich überlas den vielleicht wichtigsten Satz seines berühmten Werkes:

„Und so verhält es sich in der Philosophie überhaupt: Das Einzelne erweist sich immer wieder als unwichtig, aber die Möglichkeit jedes Einzelnen gibt uns einen Aufschluss über das Wesen der Welt.” Tractatus, 3.3421

Nicht in den einzelnen Aussprüchen oder Werken ist Wittgensteins Denken zu fassen, sondern im Verständnis seiner komplexen Persönlichkeit, zu der ihn das Leben gemacht hat. Der unbekannte Wittgenstein zeigt sich vielfältig und überraschend.

Der vielfältige Wittgenstein vereint in seinen 62 Lebensjahren sieben verschiedene berufliche Tätigkeiten: er war Student des Maschinenbaus, Philosophiestudent in Cambridge bei Bertrand Russell und George Edward Moore, Einsiedler in Norwegen, freiwillig Soldat im ersten Weltkrieg, Volksschullehrer, Architekt in Wien und schließlich Professor für Philosophie in Cambridge. Aus all seinem Tun lässt sich eine gewisse Rigorosität und Konsequenz herauslesen, die auch seinen philosophischen Werken zu eigen ist. Das Haus, welches er zusammen mit Paul Engelmann und Jacques Groag für seine Schwester Margarethe Stonborough-Wittgenstein in Wien gebaut hatte, wirkt wie eine in Bauform gegossene stringente Logik in seiner klaren Kantensprache und den Winkeln. Als sein philosophisches Werk in seinen eigenen Augen getan war, legte er konsequent im Jahr 1947 seine Professur für Philosophie in Cambridge nieder. Ihm schien stets mehr an der Sache als am Renommee irgendeiner Tätigkeit zu liegen.

Der überraschende Wittgenstein bündelt in seiner Person den großzügigen Wohltäter, Einsiedler und religiösen Denker. Geboren in die einflussreiche und wohlhabende Industriellenfamilie Wittgenstein spendet er im Sommer 1914 mit Hilfe des Herausgebers der Zeitschrift „Der Brenner“ 100.000 Kronen an mittellose österreichische Künstler. Nach dem Ersten Weltkrieg kehrt Ludwig Wittgenstein von der Front zurück und übergibt im Jahr 1919 sein ganzes Vermögen den in Europa lebenden Geschwistern. Fortan muss er für seinen kargen Unterhalt arbeiten, doch scheint sein Mentor und Freund Bertrand Russell von Wittgensteins Handeln nicht sonderlich überrascht gewesen zu sein.1

Mitten im hohen Norden, im norwegischen Skjolden, sucht Ludwig Wittgenstein von 1913-1914 und noch einmal im Jahr 1936 inmitten der rauen Naturwelt, wo der längste und tiefste Fjord Europas auf steile Berge trifft, die inspirierende Einsamkeit. In Ruhe arbeitet er an seinem Tractatus und übt sich im Denken und in der Einsamkeit des Seins. Gegenüber Russell soll er verlautbart haben, er wolle in der Stille die Probleme der Logik lösen. Die Hoffnung, am allerstillsten Fleckchen der Erde die Probleme der Logik lösen zu können, ist nachvollziehbar, erfolgt doch philosophisches Denken auf hohem Niveau am besten ohne jegliche Ablenkung.

Aus einer jüdischen Familie stammend, wurde Ludwig Wittgenstein römisch-katholisch getauft. In seinen Tagebüchern und in seiner Vorlesung “Über den religiösen Glauben” zeigt sich ein Ludwig Wittgenstein, der sich Gedanken über Gott, über den Unterschied von religiöser und wissenschaftlicher Sprache und über den Glauben an sich macht. Dies scheint seiner Aussage im Tractatus zu widersprechen, hat er doch dort formuliert, dass es logisch unsinnig ist, über Dinge zu sprechen, die außerhalb der Welt sind – und dazu gehören Gott2 und die Religion. Dennoch schien ihn dieses Unaussprechliche zu faszinieren. In dieser Hinsicht war Wittgenstein ein religiöser Denker, den die großen Lebensfragen nach dem Sinn des Lebens, Glauben, Gewissen und Schicksal nicht losließen.3 Am 11.6.1916 schreibt er in sein Tagebuch: „Den Sinn des Lebens, d.i. den Sinn der Welt, können wir Gott nennen. [...] Das Gebet ist der Gedanke an den Sinn des Lebens.” Es existiert folglich eine Welt außerhalb, die unfassbar und transzendent ist. Es gibt eine Welt über die wir sinnvoll sprechen können und eine von unserem Willen unabhängige Welt, über die es unsinnig ist zu sprechen.4 Analog dazu schreibt er am 8.7.1916: „Es gibt zwei Gottheiten: die Welt und mein unabhängiges Ich.” Gott ist die Welt, die von unserem Willen unabhängig ist. Der fremde Wille, von dem wir Menschen abhängig sind – das Schicksal – das ist Gott. Was ist dann das Gewissen? Das Gewissen ist die Stimme Gottes, meint Wittgenstein. Diese Aufzeichnungen zeigen, dass Ludwig Wittgenstein in seinem philosophischen Denken durchaus über die Grenzen der Welt und der Sprache hinaus ging und hier nicht zwangsläufig Ockhams Rasiermesser ansetzte.

Den privaten Ludwig Wittgenstein, den mit seinen Studenten philosophierenden Professor und den getriebenen Denker in all seinen Aufschrieben zu suchen, lohnt sich. Ludwig Wittgenstein war ein genialer Denker oder wie John Maynard Keynes in einem Brief am 18.01.1929 an seine zukünftige Frau Lydia Lopokova über dessen Ankunft in Cambridge schrieb: „God has arrived, I met him on the 5.15 train.”5

 


1 Brief von Bertrand Russell an Ludwig Wittgenstein am 14.10.1919, in: B.F. McGuinness und G.H. von Wright: Unpublished Correspondence between Russel & Wittgenstein, S. 110; unter: file:///Users/sophiavallbracht/Downloads/jadmin,+fulltext.pdf; last access 07.05.2024.

2 Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus. 6.432: „Gott offenbart sich nicht in der Welt.”

3 So empfahl Wittgenstein beispielsweise seinem Freund Russell Die religiösen Streitschriften von Lessing als Lektüre, die er selbst sehr liebte. Brief an Russell, 1922, S. 120; unter: file:///Users/sophiavallbracht/Downloads/jadmin,+fulltext.pdf; last access 13.05.2024.

4 Folgerichtig lehnt er auch Gottesbeweise ab, da Gott nicht durch Gründe bewiesen werden kann. Das Wort “Gott” ist Teil eines Bildes (in der Kommunion, Kirche etc.), wie ihn die religiöse Sprache als Sprachspiel verwendet.

5 Maurice O’Connor Drury: The Selected Writings of Maurice O’Connor Drury. On Wittgenstein, Philosophy, Religion and Psychiatry. Ed. by John Hayes, London: Bloomsbury, 2019. I, S. 2.